Geschlechterrollen – WTF?!

Die Evolution hat es so gewollt, dass Frauen zuhause bleiben, sich um die Kinder kümmern und die „weichen“ Aufgaben übernehmen. Außerdem sieht die Natur vor, dass Frauen ruhig, intuitiv und sanft sind. Dagegen ist es von Natur aus so gewollt, dass die Männer rausgehen in die Welt, die Familie ernähren und sie verteidigen. Kurz gesagt: Die Natur sieht typische Geschlechterrollen vor… Bullshit! – Kann ich euch sagen. Denn das stimmt ganz und gar nicht, wie Forschungsergebnisse der letzten Jahre bewiesen haben!

Doch woher stammen diese Vorstellungen, die wir die letzten Jahrhunderte als Gesellschaft allzu gewissenhaft verwirklicht und in unserer alltäglichen Realität umgesetzt haben? Sie sind schlichtweg ein Mythos, der in der männerdominierten Welt der Archäologie des 18. und auch 19. Jahrhunderts seinen Ursprung hat. Zu dieser Zeit war die Archäologie, wie auch so viele andere Bereiche und das nicht nur in den Wissenschaften beziehungsweise in der Forschung, eine reine Männerdomäne. So kam es, dass eben diese Männer die Geschlechterrollen, in denen sie selbst lebten, auch auf die Männer und Frauen prähistorischer Zeiten übertrugen und ihnen sozusagen überstülpten. Ohne, dass es je tatsächliche Beweise im Sinne von archäologischen Funden dafür gab. Im Gegenteil: Es hat sich vielfach gezeigt, dass es etwa in der Steinzeit keine geschlechterspezifische Aufgabenverteilung gab, wie wir sie aber heute noch kennen und pflegen. Waren unsere Vorfahren vielleicht moderner und emanzipierter als wir heute? Ja, möglicherweise. Doch davon lest ihr etwas später in diesem Beitrag.

Geschlechterrollen - Typisch Frau?!
Geschlechterrollen – Typisch Frau?!

Zunächst jedoch zu der Frage, ob die Klischees, die sich um unsere Geschlechter ranken, fast schon wie Märchen, etwas sind, was unserer Natur als Frauen entspricht. Oder viel eher etwas ist, was uns antrainiert wird? Bevor wir dieser Frage allerdings näher auf den Grund gehen, gilt es zwei Begriffe zu erklären, deren Unterscheidung im Weiteren noch wichtig sein wird: Das deutsche Wort „Geschlecht“ ist sehr vieldeutig. So kann es einerseits für das Geschlechtsteil stehen, für das biologische beziehungsweise genetische Geschlecht stehen aber auch für die Geschlechtsidentität – Bin ich vielleicht als Mann geboren? Identifiziere mich aber als Frau? Im Englischen lassen sich diese Begriffe einfacher differenzieren, da hier von „sex“ und „gender“ gesprochen wird. Biologisches Geschlecht wird mit „sex“ übersetzt und die Geschlechtsidentität mit „gender“. Alleine schon begrifflich lässt sich feststellen, dass dies Verschiedenes ist und nicht zwingend in einer Person ein und dasselbe „Geschlecht“ zusammen kommen muss.


So findet Simone de Beauvoirs (1908-1989, französische Schriftstellerin und Philosophin) These, dass es keine spezifische Differenz zwischen Frauen und Männern gibt und demnach Frauen zu Frauen gemacht werden und als Geschlecht „zweiter Art“ sozialisiert werden, in diesen Erkenntnissen absolute Bestätigung. Auch Olympe de Gouges (ebenfalls französische Schriftstellerin und Philosophin, 1748-1793) hat schon einige Zeit vor de Beauvoir in eine ähnliche Richtung gedacht. De Gouges erkannte, dass in der Tierwelt durchaus Gleichberechtigung zwischen männlichen und weiblichen Artgenoss*innen gibt. Das zeigt deutlich, dass Geschlechterrollen etwas Anerzogenes und etwas vom Menschen Kultiviertes sind. Unser Geschlecht (im Sinne von „gender“) ist also das, wie wir uns als Individuum fühlen, geben und auch, wie die Gesellschaft uns als Frau sieht und, was sie von uns Frauen erwartet.

„Von Natur aus gegeben…“

Dass das anerzogen ist und nicht etwa in unseren Genen festgeschrieben ist, zeigt auch das folgende Beispiel: So füttern etwa weibliche und männliche Vögel ihre Jungen und brüten die Eier abwechselnd beziehungsweise gemeinsam aus. Oder betrachten wir Seepferdchen, bei denen sogar das männliche Tier schwanger ist, die Kleinen austrägt und schließlich gebiert. Nicht nur, dass in der Natur die zu erledigenden Aufgaben, die das Überleben aller sichern und damit auch die Art an sich erhalten, von allen gleichermaßen ausgeführt werden. Nein, es gibt auch gleichgeschlechtliche Paare, die Junge anderer Paare adoptieren und sie aufziehen, als wären es ihre eigenen. Wie etwa zwei Pelikan Männchen im Berliner Tierpark, die kürzlich Eltern eines Pelikanbabys wurden, nachdem sie das Ei einige Zeit ausgebrütet haben. Zuvor hatten die beiden schon einen deutlichen Kinderwunsch gezeigt, weshalb sie vom Tierpark ein Dummy-Ei bekommen haben.

Wir können also mit Sicherheit davon ausgehen, dass es von Natur aus gegeben ist, dass sich Männer* und Frauen* als Team ergänzen, zusammenarbeiten sollen und je nach den Anforderungen alle Aufgaben übernehmen und gleichberechtigt handeln.

Familienglück bei zwei Pelikan-Papas

Geschlechterrollen als Verkaufsschlager

Ratgeber, wie „Warum Männer schlecht zuhören und Frauen schlecht einparken“ (Ullstein, 2017) oder „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“ (Piper, 2005) vertreten aber dennoch Ansichten, die gegen wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen:

„Der männliche Jagdtrieb – bis heute legendär. Ebenso der schlechte weibliche Orientierungssinn. Klar, unsere weiblichen Vorfahren saßen schließlich die meiste Zeit am Feuer in der Höhle und nähten. Durch Kindererziehung und den täglichen Schwatz erwarben sie soziale Kompetenz und Sprachgefühl. Deshalb sind Frauen also von Natur aus fürsorglich und einfühlsam. Männer von Natur aus aggressiv und durchsetzungsstark. Schließlich haben sie ja über Jahrtausende durch ihre Keulenschwingerei und Großwildjagd ihre Rolle als Ernährer einstudiert.“

aus „Warum Männer schlecht zuhören und Frauen schlecht einparken“ – „Blödsinn!“, sagt die Autorin Eva Hupfer in Anspielung auf die zahlreichen Forschungsergebnisse, die genau Gegenteiliges beweisen.


Und das nicht unbedingt erfolglos, denn sie erschienen bereits in der 6. beziehungsweise sogar in der 18. Auflage. Nebenbei bemerkt sind diese Bücher nicht etwa in den 1920er- oder 1950er-Jahre erschienen, nein, sie sind beide im 21. Jahrhundert veröffentlicht worden. Ersteres lediglich vor 7 Jahren, also vor gar nicht allzu langer Zeit. Wir könnten also behaupten, dass wir noch im 21. Jahrhundert Geschlechterrollen propagieren, die schon während der Vorgeschichte out waren und, dass sich diese Rollen gar nicht mal so schlecht verkaufen lassen sollten… Übrigens und nebenbei bemerkt: Die Vorgeschichte (auch Prähistorie) liegt sage und schreibe 2-3 Millionen Jahre zurück. Wir leben also heute tatsächlich steinzeitlicher als in der Steinzeit.

Ist unser Hirn anders programmiert?

Das männliche und weibliche Gehirn soll darüber hinaus gänzlich verschieden programmiert sein, wie einige auch noch heute behaupten. Unsere Gehirne seien also auf „typisch männlichen“ und „typisch weiblichen“ programmiert und gäbe damit die ideale Aufgabenverteilung vor. Denn Männer sind für das Jagen und Ernähren geschaffen und Frauen für das Kinderkriegen und zuhause in der Höhle Bleiben. Frauen suchen deshalb auch verzweifelt nach einem paarungswilligen Männchen, das sie beschützt und schwängert. Auch das ist an den Haaren herbeigezogener Blödsinn. Zwar sind die Körper von biologischen Männern und biologischen Frauen unterschiedlich angelegt, was die Fortpflanzung angeht. Doch sind weder ihre Gehirne noch ihre restlichen Voraussetzungen konsequent für das eine ODER das andere ausgelegt.

Wir sind auch nicht besser oder schlechter für das eine oder andere geeignet – es gibt nicht bloß Schwarz und Weiß oder wie in diesem Fall Rosa und Blau. Durch die Vorstellungen, die Forscher (ja, nicht gegendert) in ihre Ergebnisse hineininterpretiert haben, weil sie sie selbst mitgebracht haben und im 18. Und 19. Jahrhundert so gelebt haben, versuchen wir auch gegenwärtig noch an diesen Geschlechterrollen festzuhalten und sie zu rechtfertigen. Das, was wir heute noch für normal empfinden, übertragen wir auch auf die Vergangenheit – Jedoch ohne dafür Beweise zu haben für die Richtigkeit. Aktuelle Forschungsergebnisse in der Archäologie wurden demnach häufig übergangen, was glücklicherweise in der Gegenwart zusehends abnimmt.

Die Fußspuren von Laetoli

Ende der 1970er-Jahre wurden in Tansania 2 parallel verlaufende Fußspuren gefunden. Von zwei oder drei Personen, die vor mehr als 3,5 Millionen Jahren gelebt haben. Die große Frage: Wer war das? Wer hat hier lange vor unserer Zeit Spuren hinterlassen? Aufgrund der Maße der Fußspuren gingen Forscher*innen rasch davon aus, dass es ein Mann und eine Frau gewesen sein könnten, vielleicht auch noch ein Kind. Doch mit absoluter Sicherheit kann das bis heute nicht behauptet werden.


In Büchern wurden zu den sogenannten „Fußspuren von Laetoli“ Bilder illustriert. Sie zeigen einen Mann mit Stock oder einem Werkzeug in der Hand, der voraus geht. Natürlich hinter ihm geht eine Frau. Sie wird entweder schwanger oder mit Kind auf der Hüfte dargestellt. Es wird also das klassische Bild von „Vater, Mutter, Kind“ gezeigt. Damit verbunden – die „traditionellen“ Geschlechterrollen: Der Mann als Mutiger, der vorausgeht und jagt. Die Frau, die an zweiter Stelle ist, als Mutter und diejenige, die sich um die Kinder kümmert. „Obwohl wir nur die Fußspuren haben!“, so die Forscherin Siegrid Schmitz, Professorin für Gender Studies an der Universität Wien im Interview mit dem ARD für den Bayern 2 Podcast „Radio Wissen“.

Schmitz nennt dieses Phänomen eine Zirkelschlussnaturalisierung, bei der ein gewisses Verhalten einfach vorausgesetzt wird und schlichtweg als das gesehen wird, was von der Natur aus gegeben ist und sich über die Evolution deshalb in der Gesellschaft gehalten hat. Unsere Vorstellungen, wie es zu sein hat, werden demnach durch pseudo-biologische Argumente „gestützt“, die ausdrücken sollen, dass es biologische Determination (= biologische Vorherbestimmung) sei, dass wir uns so verhalten. Basierend auf dieser Argumentation werden wiederum die auch heute noch weit verbreiteten Verhaltensweisen von „typisch Mann“ und „typisch Frau“ legitimiert.

Nur Fußspuren im Sand…

Doch diese Sichtweise ist zirkelschlüssig und damit zu verwerfen: Wie oben bereits beschrieben, sind die im 18. und 19. Jahrhundert üblich gewesenen Rollenbilder und die Sichtweisen der damaligen Forscher in Funde lediglich hineininterpretiert worden – wie deutlich wird, wenn wir uns nochmals das Beispiel mit den Fußspuren vor Augen führen. Dass diese Rollenbilder bloße Klischees sind und nur die Meinung der männlichen Forscher von damals widerspiegeln, rechtfertigt in keinster Weise, dass wir sie als biologisch und damit von Natur aus für gegeben nehmen. Das Gehirn ist in diesem Falle ganz gewiss nicht in seinen Fähigkeiten zu unterscheiden, ob es nun im Kopf einer Frau oder eines Mannes eingebettet liegt.

Festzuhalten ist also, dass es so etwas wie „typisch Frau“ und „typisch Mann“ nicht gibt und schon gar nicht von Natur aus. Das, was für „typisch Frau“ und „typisch Mann“ steht, ist nur das, was Männer in ihre Forschung interpretiert haben – und das fälschlicherweise. Oder sagen wir vielleicht besser, dass es das ist, was Männer für unsere Gesellschaft für richtig erachtet haben.
Sicher ist: Wir können und dürfen alle alles! Es gibt keine Rechtfertigung dafür, warum Frauen etwas nicht machen sollten und Männer sehr wohl dürfen. Es gibt aber auch keine Rechtfertigung dafür, warum Männer etwas nicht machen sollten und Frauen sehr wohl müssen. Allerspätestens jetzt gilt es, Geschlechterrollen aufzubrechen und damit den Weg für eine inklusive Gesellschaft für alle zu ebnen. Denn gemeinsam sind wir besser.

Dich interessiert das Thema Gleichberechtigung und Frauenrechte? HIER findest du einen Beitrag zum Thema Abreibung!
Dies ist ein Beitrag, der im Rahmen des Themenschwerpunkts „Gleichberechtigung – Gemeinsam besser“ rundum den Weltfrauentag 2024 veröffentlicht wurde.

Mehr zum Thema:

Simone de Beauvoir: „Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau.“, Rowohlt (2017)


https://www.rowohlt.de/buch/simone-de-beauvoir-das-andere-geschlecht-9783644051614

Simone de Beauvoirs "Das andere Geschlecht"

Olympe de Gouges: „Die Rechte der Frau und Bürgerin“, in: Olympe de Gouges. Die Rechte der Frau und andere Texte. Mit einem Essay von Margarete Stokowski. Reclam (2018)


https://www.reclam.de/detail/978-3-15-019527-7/de_Gouges_Olympe/DieRechte_der_Frau_und_andere_Texte

Judith Butler: „Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies.“ (Originaltitel: Gender Troubles. Feminism and the subversion of identity.), Suhrkamp (2023)


https://www.suhrkamp.de/buch/judith-butler-das-unbehagen-der-geschlechter-t-9783518117224

Univ.-Prof.in Dr.in Sigrid Schmitz

Univ.-Prof. Dr. Sigrid Schmitz von der Universität Wien, Professorin für Gender Studies

https://medienportal.univie.ac.at/uniview/professuren/cv/artikel/univ-prof-dr-sigrid-schmitz/

Artikel über schwule Pelikaneltern: https://www.tagesschau.de/inland/regional/berlin/rbb-im-berliner-tierpark-hat-ein-maennliches-pelikan-paar-ein-kueken-adoptiert-100.html

Podcast-Folge von Bayern Radio: „Steinzeitklisches – Männer jagen, Frauen kochen“
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/steinzeitklischees-maenner-jagen-frauen-kochen/32144

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